Freitag, 14. September 2012

“Modernes Raubrittertum – Wie Krankenkassen Therapeuten ausbeuten”

Hier ein  Bericht von Elke Oldenburg,  Redakteurin von der Zeitschrift  physiopraxis :

"Modernes Raubrittertum


WIE KRANKENKASSEN THERAPEUTEN AUSBEUTEN
 Die Rezeptprüfpflicht hält viele Physiotherapeuten immer noch auf Trab. Sie stochern im Nebel und sehen von den Krankenkassen nur spärlich Bereitschaft, durch konkrete Prüfvereinbarungen für Klarheit zu sorgen. Im Gegenteil: Manche Kassen gerieren sich als Herrscher der Willkür und nicht als Versicherer von Patienten.
Sie sitzt im Nacken - die Angst, Fehler auf der Verordnung zu übersehen und deshalb die geleistete Arbeit nicht bezahlt zu bekommen. Bei mancher Verordnung können da schnell mal400 Euro dem Rotstift der Krankenkassen zum Opfer fallen, für einen Physiotherapeuten ein Tagessatz. Das schürt bei
Betroffenen Existenzangst und wirkt zermürbend. Vor allem, wenn sie alles Mögliche dafür tun, um Fehler zu vermeiden, sie hierfür viel Zeit und Geld investieren und sie dennoch ein fehlerhaftes Rezept übersehen. Quittung der Krankenkasse: kein Geld für die erbrachte Arbeit - Rezept abgesetzt.
Eine Physiotherapeutin bringt auf der Facebook-Seite. " Thierne liebt Physiotherapeuten" die Problematik auf den Punkt: "Ich denke, es geht nicht darum, dass Physios zu blöd sind, ein Rezept zu prüfen, sondern dass diese Prüfpflicht für den Praxisalltag unrealistisch ist. Irgendein Häkchen rutscht immer durch, und schon gibt es kein Geld mehr." Sie zog für sich eine Konsequenz, die zu denken gibt: "Ich jedenfalls habe meine Kassenzulassung abgegeben!"

Absetzungen: bundesweit und kassenübergreifend

 Die Rezeptprüfpflicht und die Absetzung durch die Kassen lassen in einigen Bundesländern die Telefone der Berufsverbände heiß laufen. Und das seit Jahren. Die Zeiten sind längst vorbei, als nur die AOK Baden-Württemberg für Unmut und Schlagzeilen sorgte. Inzwischen kämpfen auch
Therapeuten aus Bayern, Rheinland-Pfalz, Saarland, Niedersachsen, Thüringen, Berlin und Brandenburg vermehrt mit Rezeptwertkürzungen und -streichungen der AOK. Doch auch bei manchen Ersatzkassen scheint die Gangart härterzu werden. Die Berufsverbände IFK, Physio-Deutschland (früher ZVK) und VPT hören inzwischen auch von Absetzungen durch die DAK und Deutsche BKK, die bis vor kurzem Zusatzbeiträge erheben mussten. Werden die Vertreter der Kassen auf die
Rezeptabsetzungen angesprochen, berufen sie sich in der Regel auf das Urteil des Bundessozialgerichtes aus dem Jahre 2009. Dies bestätigte, "dass Heilmittelleistungserbringer
zwecks Umsetzung des Wirtschaftlichkeitsgebotes verpflichtet sind, ärztliche Verordnungen auf ihre Vollständigkeit und Plausibilität in Bezug auf die Heilmittel-Richtlinie (HeiIM-RL) hin zu überprüfen". Die Rezept-
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Es gibt 145 gesetzliche
Krankenkassen, 16 Bundesländer
und keine einheitliche
Prüfvereinbarung.
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prüfpflicht streitet auch kein Therapeut ab. Doch Raymond Binder, Landesvorsitzender des VPT Baden-Württemberg, stellt klar: "Das Gericht hat nie bestimmt, dass wenn das Rezept nicht korrekt ausgefüllt ist, wir kein Geld bekommen." Das sei die Interpretation der Kassen. Und manche Kasse scheint jeden Interpretationsspielraum für sich zu nutzen.

Rechtsunsicherheit zermürbt

In Deutschland gibt es 145 gesetzliche Krankenkassen, 16 Bundesländer und keine einheitliche Regelung, wie Therapeuten die Heilmittelverordnungen des Arztes prüfen sollen. Therapeuten in Grenzregionen müssen dann besonders auf der Hut sein. Ein Beispiel gibt Michael Preibsch,
Landesvorsitzender von Physio-Deutschland in Baden-Württemberg und Inhaber einer Praxis in Weinheim. "Die telefonische Korrekturvereinbarung, die wir jetzt im Rahmenvertrag haben und  die die AOK Baden-Württemberg akzeptiert, wird zum Beispiel von der AOK Hessen nicht toleriert. Wir haben häufig Probleme mit Rezepten, die uns durchflutschen, weil wir sie nach Baden-Württemberg-Recht bearbeiten und dann von der AOK-Hessen abgesetzt bekommen, weil die sagt, bei uns geht eine telefonische Nachbesserung nicht."
Ende 2011 konnten sich die vier Berufsverbände mit der AOK Baden-Württemberg auf einen neuen Rahmenvertrag einigen. In ihm haben sie gemeinsam die Prüfpflicht konkretisiert.
Das ist mehr als notwendig, denn die HeilM-RL, die am 1. Juli 2011 zum letzten Mal
aktualisiert wurde, lässt an etlichen Stellen zu viel Spielraum für Interpretationen. Künftig muss in Baden-Württemberg beispielsweise ein fehlendes Kreuz beim Hausbesuch und Arztbericht nicht nachgetragen werden, sondern bedeutet "Nein". Zudem dürfen die Therapeuten nach telefonischer Rücksprache mit dem Arzt das Rezept ändern und ergänzen, sofern das beispielsweise nicht die Angabe des Heilmittels, die Diagnose und die Anzahl der Behandlung betrifft. Das hat die Lage
etwas entspannt: Raymond Binder, der eine Praxis im ländlichen Nagold betreibt, kann seinen Patienten so die 30 km weite Fahrt zum Facharzt ersparen und muss Patienten mit 40 Litern in den Beinen" wegen einem falschen Buchstaben beim Indikationsschlüssel nicht mehr zurück zum Hausarzt schicken.

Auch in Thüringen und Schleswig-Holstein hat die AOK mit den Berufsverbänden neue
Rahmenverträge vereinbart und darin Prüfkriterien konkretisiert. Der Verband der Ersatzkassen (vdek) erarbeitet derzeit mit den Berufsverbänden eine Prüfliste, die dann für alle Ersatzkassen gelten soll. Die zähen Verhandlungen laufen schon über ein Jahr, und die Berufsverbände der Heilmittelerbringer hoffen, dass sie sich mit der vdek bis Ende 2012 einig werden.
Sibylle Görg wünscht sich auch für Niedersachsen eine Prüfvereinbarung mit der AOK. Sie ist im Vorstand des Nordverbunds von Physio-Deutschland, ein Zusammenschluss der Landesverbände Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein.
In Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein laufe die Zusammenarbeit mit der AOK gut. Die Kassen pflegen dort ihre Vertragspartnerschaft. Anders in Niedersachsen. Hier lasse die AOK ihre Versicherten von Therapeuten behandeln und setzt plötzlich Dinge ohne Vorankündigung ab, die sie jahrelang vergütet hat: "Die AOK hat entschieden, dass Schlingentisch nicht mehr bezahlt wird, weil es jetzt Traktion heißt",  nennt Görg ein Beispiel. Bei der AOK Niedersachsen ist die Abteilung zur Prüfung der Rezepte groß. Penibel spüren die Mitarbeiter Fehler bei den Heilmittelverordnungen auf. So prüfen sie mit dem Routenplaner map24 die Angaben der abgerechneten Hausbesuche. Deckt sich die von der AOK errechnete Route nicht mit der des Therapeuten, kommt es zu Kürzungen, berichtet Görq. Sie hält konkrete und verlässliche Prüfvereinbarungen mit der AOK für dringend notwendig. "Der hohe Bürokratismus ist anstrengend, kostet Nerven und geht ins Geld:'

300 Fehlermöglichkeiten

Therapeuten brauchen Rechtssicherheit, denn die Rezeptprüfung wird immer komplexer und damit steigt die Fehlerwahrscheinlichkeit. Der VPT hat berechnet, dass es über 300 Möglichkeiten gibt, wie ein Rezept falsch ausgestellt werden kann. Und der Anteil der fehlerhaften Rezepte ist hoch: 20 bis 30 Prozent füllt der Arzt nicht richtig aus. "Die Ärzte reagieren auf Korrekturwünsche nicht immer freundlich" , weiß Hans Ortmann, Vorsitzender der VPT Landesgruppe Bayern. Auch Bayern
wünscht sich deshalb, dass Therapeuten nach Rücksprache mit dem Arzt selbst Korrekturen vornehmen
können. Die Berufsverbände stehen in dieser Frage eng zusammen und haben im Mai 2012 gemeinsam mit der AOK endlich eine Prüfvereinbarung erarbeitet. Doch bis heute konnte diese nicht in Kraft
treten, denn nach Aussagen der Krankenkasse fehlt noch die  Unterschrift der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns, erzählt Rüdiger von Esebeck, Landesvorsitzender von  Physio-Deutschland in Bayern. "Seit anderthalb Jahren  warten wir auf Rechtssicherheit. "
 Und so gehen die Absetzungen weiter, ebenso wie  der Ideenreichtum der AOK: "Die Diagnose
,HWS-Syndrom' wird nicht mehr akzeptiert, obwohl sie eine Verschlüssellung nach ICD10 ist. Begründung der Kasse: zu unkonkret", berichtet Rüdiger von Esebeck.
Doch werden die Ärzte in Bayern dann konkret und geben  beispielsweise zur Diagnose "Narbenkontraktur am Handgelenk" das Leitsymptom Gelenkfunk tionsstörung, Kontraktur oder
Bewegungsstörung an, dann akzeptiert die AOK die Verordnung nicht, sagt Hans Ortmann.  Es heißt, das sei vom Heilmittelkatalog abgeschrieben. Verwun-

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Therapeuten Geld
für ehrlich erbrachte
Arbeit vorzuenthalten, ist
modernes Raubrittertum.
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-derlich ist nur, dass beispielsweise in Niedersachsen Rezepte abgesetzt werden, weil die verwendeten Bezeichnungen nicht aus dem Heilmittelkatalog stammen.

Zwei Stunden Rezeptprüfung pro Tag

Das Verhalten mancher Kassen hinterlässt den Geschmack von Willkür. Dagegen helfen die vielen Maßnahmen, die Fehler der ärztlichen Verordnungen zu reduzieren bzw. sie zu korrigieren, kaum. Der Aufwand, der hierfür betrieben wird, ist beachtlich: Es gibt Prüfprogramme für Ärzte. Die Abrechnungsfirmen bieten eine spezielle Prüfsoftware für Therapeuten an. Die Kassenärztliche Vereinigung veranstaltet Schulungen für Ärzte und ihre Praxisassistenten. Die Berufsverbände schulen
die Therapeuten und Rezeptionskräfte. Die Nachfrage ist riesig, und wer bei einer solchen Schulung
zugegen ist, merkt, wie stark die Physiotherapeuten und Rezeptionskräfte verunsichert sind: weil sie prüfen und trotzdem manchmal leer ausgehen, weil die Krankenkassen nicht selten heute was anderes behaupten als gestern. Es fehlen Transparenz und Rechtssicherheit.
Die Prüfpflicht kostet die Therapeuten viel:
In der Praxis von Michael Preibsch arbeiten zwölf  Physiotherapeuten. Jeden Tag sind seine Mitarbeiter zusammengerechnet ein bis zwei Stunden damit beschäftigt, Rezepte auf mögliche Fehler zu untersuchen. Sie nutzen hierfür eine selbst entwickelte Prüfschablone und die Software des Praxisverwaltungsprogramms. Und dennoch rutschen ab und zu fehlerhafte Rezepte durch. "Einige Physiotherapiepraxen haben extra 400-Euro-Kräfte angestellt, die sich nur mit der Rezeptprüfung beschäftigen", berichtet Dr. Michael Heinen, Referatsleiter Kassenverhandlungen und Wirtschaft vom
Bundesverband selbstständiger Physiothera-

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Der Bürokratismus geht
ins Geld und kann
existenzbedrohend werden.
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peuten IFK. "Die Wirtschaftlichkeitsumfrage des IFK bestätigt den Trend, dass Selbstständige
immer mehr Geld für Verwaltungsaufgaben ausgeben müssen. Ein Kostenfaktor, der für Praxen, die nicht so gut laufen, existenzbedrohend sein kann."

Unglaubliche Bereicherung

 Es herrscht ein Ungleichgewicht der Kräfte. Zum Glück nicht in allen Ländern. Dr. Michael Heinen vom IFK ist in mehreren Bundesländern für Kassenverhandlungen zuständig und hat somit weitreichende Einblicke in die Problematik: "In Nordrhein-Westfalen kommt man mit den meisten Kassen ganz gut klar. Die verstehen sich als Vertragspartner und mit denen ann man über viele Sachen sprechen. Es gibt Bundesländer, in denen die Rezeptprüfpflicht den Physiotherapeuten nicht so im Nacken sitzt, weil sie wissen: Wenn ein Flüchtigkeitsfehler passiert, können sie mit den Kassen
reden." In Baden-Württemberg ist das meist anders. "Hat ein Therapeut einen ,nichtheilbaren' Fehler übersehen und das Rezept landet bei der AOK, ist es verbrannt: "Der Therapeut bekommt trotz erbrachter Leistung kein Geld", sagt Preibsch. Vor allem in Regionen, in denen über 50 Prozent bei der AOK versichert sind, können vermehrte Absetzungen schnell existenzbedrohliche Dimensionen annehmen. Eine nachträgliche Korrektur lässt die AOK Baden-Württemberg nicht zu. Die Therapeuten
müssen Fehler korrigiert haben, bevor das Rezept bei der Abrechnungsstelle der Krankenkasse landet. Das Stichwort heißt Nachholbarkeit.
Andere Kassen sind da kulanter. Ärgerlich ist die Absetzung vor allem, wenn es um Formalien geht wie unvollständigen .Jndikationsschlüssel" und die Angabe .Folge-" oder .Erstverordnung" . Sie haben
keinerlei Auswirkung darauf, wie der Therapeut den Patienten behandelt. Die Leistung wurde im Sinne der Verordnung des Arztes korrekt erbracht. "Wenn die Kasse ein Rezept absetzt, weil der Therapeut etwas macht, was nicht auf der Verordnung steht, dann ist die Absetzung korrekt. Wenn so etwas bewusst gemacht wurde, dann ist auch eine Sanktion korrekt. Doch das sind Ausnahmen", sagt Michael Preibsch. Michael Heinen vertritt bei der Nachholbarkeit ebenfalls eine andere Rechtsauffassung als die Kassen. Er spricht von unzulässiger Bereicherung: "Der Physiotherapeut hat ehrlich seine Leistung erbracht und bekommt dennoch von der Kasse seinen Lohn weggenommen."

Öffentlichkeit informieren

Das ist mit Logik nicht zu begründen und erklärt vielleicht, wenn Therapeuten davon berichten, dass der behandelnde Arzt und die Patienten es nicht glauben wollen, dass die Therapeuten ihre Arbeit nicht bezahlt bekommen. Schnell wird der Therapeut - und nicht die Kasse - als Störfaktor angesehen. Das belastet das Verhältnis zwischen Therapeut und Arzt, aber auch das Verhältnis zwischen Therapeut und Patient. Doch kennen Patienten die Problematik, reagieren sie möglicherweise ähnlich
verständnisvoll wie Michael Schneider in der Sendung "Frontal 21 ". die das ZDF am 22. Mai 2012 zum Thema Rezeptabsetzungen ausstrahlte: .Für das, dass ich jeden Monat meinen Kassenbeitrag zahle, finde ich es eigentlich unverschämt, dass man wegen einem Buchstaben hin- und herrennen muss und sich dann noch beim behandelnden Therapeuten entschuldigen muss, dass er kein Geld kriegt."
Gesundheitsökonom Professor Stefan Greß von der FH Fulda interpretiert die Problematik
in der gleichen Sendung wie folgt: "Das Vorgehen der Kassen ist höchst bürokratisch, kleinlich. Pfennigfuchserisch fast. Momentan habe ich den Eindruck, dass es tatsächlich nur darum geht, ein paar Euro einzusparen, über die bürokratische Prüfung der Rezepte und Verordnungen. Und ich glaube, dass das Patientenwohl derzeit dadurch gefährdet wird."
Vielleicht braucht es noch mehr solcher Berichte wie den in "Frontal 21 ", damit die breite Offentlichkeit, aber auch Patienten, Ärzte und Politik davon erfahren. In manchen Bundesländern scheinen die Berufsverbände mit Reden nicht weiterzukommen. Dort sollte die Politik den Therapeuten zur Seite stehen, um der Willkür ein Ende zu setzen. Denn: Die AOK ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, wodurch die Landesregierungen Einfluss nehmen könnten.
 Elke Oldenburg

Elke Oldenburg leitet die Redaktion der physiopraxis.
Sie verfolgt den Konflikt der Rezeptabsetzung von
Beginn an und hofft, über
diesen Beitrag mehr Transparenz
in das Geschehen
bringen zu können."
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