Freitag, 4. Mai 2018

Dr. Eckart von Hirschhausen über Physiotherapeuten im Alverde Magazin

"Gesundheitswesen – Hirschhausen stellt vor:
Physiotherapeut/in

Liebe alverde-Lesende!

Porträt von Dr. Eckart von Hirschhausen Dr. Eckart von Hirschhausen
Arzt, Kabarettist Und Gründer der Stiftung Humor hilft Heilen
© Frank Eidel

In der Klinik war ich immer neidisch auf die Physiotherapeuten, weil sie einen sehr viel engeren Draht zu den Patienten hatten. Sie berührten, lockerten, übten. Damals hießen sie noch „Krankengymnasten“, was den Wert ihrer Ausbildung und ihres Könnens nicht abbildet. Denn ihr Wissen um den Körper ist eben nicht wie bei den Ärzten anatomisch, sondern sie denken in Bewegungsabläufen, in funktionellen Muskelketten und in Spielern und Gegenspielern, weshalb es für sie zum Beispiel bei Rückenschmerzen Sinn macht, sich mit den Bauchmuskeln zu beschäftigen.

Ein guter Körpertherapeut ist weit mehr als ein Masseur oder „Knetmäuschen“, wie sie manchmal abfällig genannt wurden. Leider haben die Kassen die Behandlungszeiten im ambulanten Bereich inzwischen auf absurde Minutentaktungen gekürzt, was nicht reicht, um einen verkürzten Muskel zu lockern und zu dehnen und dem Patienten zu zeigen, wie er eigenständig weiterüben kann. Pro Jahr absolvieren circa 5.300 Menschen* in Deutschland die dreijährige Ausbildung, darunter doppelt so viele Frauen wie Männer.

Esther Kolf stellt uns ihre Trainingsgeräte und Methoden vor.
© Camillo Wiz

Es ist meiner Ansicht nach völlig absurd, dass Physiotherapeuten bis heute für ihre Ausbildung an den Berufsfachschulen selber bezahlen müssen, Medizinstudenten dagegen ihr teures Studium von der Allgemeinheit finanziert bekommen. Seit wenigen Jahren gibt es endlich auch akademische Wege zur Physiotherapie mit Bachelor und Masterstudiengängen. Bei derzeit rund 192.000 beschäftigten Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten in Deutschland liegt der Anteil der Hochschulabsolventen bei rund 2.000. Auch gibt es erst wenige Stellen für wissenschaftliche Forschung.

Typische Arbeitsplätze sind in Krankenhäusern, in physiotherapeutischen Praxen, Rehabilitationszentren, aber auch im Fitness- und Sportbereich. In vielen Bundesländern gibt es wie auch in der Pflege einen offensichtlichen Fachkräftemangel. Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten leisten einen wertvollen Beitrag zur Gesundheitsversorgung. Ihr niedriges Gehalt steht dazu allerdings in keinem Verhältnis.

Ihr
Eckart v. Hirschhausen

Interview: Umfassende Behandlung aus einer Hand
Eckart von Hirschhausen Esther Kolf ist Physiotherapeutin aus Bonn.
© Camillo Wiz

ECKART VON HIRSCHHAUSEN: Warum wurden Sie Physiotherapeutin?
ESTHER KOLF: Ich bin „Physio“ durch und durch. Mir fällt kein anderer Beruf im Gesundheitssystem ein, in dem von der Erstuntersuchung, der Diagnose, der nachfolgenden Behandlung bis zur Überprüfung des Ergebnisses alles in der Hand einer Person bleiben kann. Und das nur durch die Arbeit meines Verstandes und meiner eigenen Hände.

Was waren die Motive für die Selbstständigkeit?
Ich wollte unabhängig werden von der „Fließbandarbeit“ mit Patienten in einer 15- oder 20-Minuten-Taktung, wie ich es als Angestellte mit Kassenrezepten erlebt habe. Klassisch werden wir erst nach einer Verordnung durch einen Arzt aktiv. Ich habe mich als Heilpraktikerin für Physiotherapie selbstständig gemacht, damit Patienten direkt zu mir kommen können.

Was waren Ihre Glücksmomente?
Die größten waren sicher drei Patienten, denen ich indirekt das Leben retten konnte. Alle kamen mit Schmerzen, die sich aber bei meiner Befunderhebung als Zeichen für Krebs herausstellten, der dann fachärztlich erfolgreich behandelt werden konnte. Dass ich mich in diesen Momenten getraut habe, einer ärztlichen Diagnose zu widersprechen, darauf bin ich stolz. Ein Glücksmoment war auch, als ich eine Patientin aufgrund meines Verdachtes auf einen Bandscheibenvorfall behandelt hatte und sie bereits schmerzfrei war, bevor das MRT gemacht wurde.

Was ist Ihre Vision?
In vielen anderen Ländern ist der Physiotherapeut ein Akademiker und hoch angesehen, Patienten gehen direkt zu ihm, und die Vergütung ist doppelt so hoch wie in Deutschland. Ich wünsche mir zum einen, dass die derzeitige Ausbildung komplett nach evidenzbasiertem Wissen generalüberholt wird. Dieses Wissen gibt es! Mir ist erst nach der Ausbildung klar geworden, wie viel des Gelernten in keiner Weise wissenschaftlich belegt ist. Zum anderen wünsche ich mir, dass differenzialdiagnostisches Denken und Handeln vermittelt werden, wenn man die Verantwortung des Erstkontaktes mit Patienten erlangen möchte. Da haben wir echten Nachholbedarf. Aber ich behalte meinen Humor, frei nach dem Loriot- Prinzip: „Ein Leben ohne Physio ist möglich, aber sinnlos.“


alverde-Magazin Mai 2018"


Das Original ist hier zu finden:


https://www.dm.de/alverde-magazin/gesund-bleiben/heilberufe-physio-therapeut-in-c1173028.html

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